Viele Menschen ernähren sich mittlerweile glutenfrei. Auch viele derjenigen, die nicht an einer Unverträglichkeit leiden. Doch ist die glutenfreie Ernährung in jedem Fall gut? Wir haben dazu zwei Experten befragt.
Prof. Dr. med. Martin Storr ist Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie am Zentrum für Endoskopie in Starnberg mit Schwerpunkt auf funktionelle und entzündliche Magen- und Darmerkrankungen. Für seine Forschung wurde er mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, ist Mitglied in diversen Leitlinienkommissionen und Gutachter für Bundesbehörden.
Wie gesund oder ungesund eine glutenfreie Ernährung ist, darüber wird heute oft eine hitzige Debatte geführt. Vor allem, wenn es dabei um Menschen geht, die nicht von Zöliakie, also der Autoimmunerkrankung gegenüber Gluten, betroffen sind. Bei Zöliakie und einer echten Weizenallergie steht eine glutenfreie Ernährung natürlich außer Diskussion. Strittig ist dagegen, ob auch bei Reizdarmbeschwerden und bei Glutensensitivität eine glutenfreie Ernährung nötig und hilfreich ist. Und ob eine solche Ernährungsform gesund ist, wenn keine medizinischen Gründe dafür vorliegen. Dazu muss man wissen: Bis vor ca. 7.000 Jahren war die Ernährung der Menschen im Prinzip glutenfrei. Erst mit Beginn des Ackerbaus änderte sich das. Genauer gesagt mit dem Anbau von Weizen und anderem Getreide. Was bedeutet: Gluten ist kein essentieller Nahrungsbestandteil, eine glutenfreie Ernährung demnach auch nicht krankmachend. Bei ernährungsphysiologischen Untersuchungen konnten jedenfalls bislang keine Mangelerscheinungen nachgewiesen werden.
Es kann deshalb jeder frei entscheiden, ob er oder sie sich glutenfrei ernähren möchte. Ob die Ernährung insgesamt gesund ist, hängt vor allem davon ab, wie abwechslungsreich der tägliche Speiseplan ist, wie hoch also der Anteil an Vital- und Ballaststoffen sowie anderen wichtigen Nahrungsbestandteilen ist.
Beim Krankheitsbild der Orthorexie dagegen führt das Bedürfnis nach gesunder Ernährung zu einer übertriebenen Einschränkung des Speiseplans. Der Verzicht auf glutenhaltige Lebensmittel gehört da meist mit dazu, was auf Dauer aber zu Nährstoffmangel führt. Orthorexie gehört aus diesem Grund auch zu den Essstörungen. Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen, dass eine glutenfreie Ernährung niemandem schadet. Doch hat sie – abgesehen von Menschen, die an Zöliakie oder einer echten Weizenallergie leiden – auch gesundheitliche Vorteile? Zum Beispiel bei Glutensensitivität?
In der deutschen medizinischen Behandlungsrichtlinie wird dieses Krankheitsbild inzwischen etwas erweitert bezeichnet als „Nicht-Zöliakie, Nicht-Weizenallergie- Weizensensitivität“ (abgekürzt NZNW-WS). Diese Bezeichnung soll berücksichtigen, dass nicht nur der Weizenbestandteil Gluten, sondern auch andere Weizeninhaltsstoffe wie Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs), FODMAPs und Fruktane zu Beschwerden führen können. Unter die Diagnose NZNW-WS fallen demnach nicht nur Menschen mit Glutensensitivität, sondern auch viele mit einem Reizdarmsyndrom.
Zweifel am Krankheitsbild der NZNW-WS gibt es inzwischen kaum mehr. Diskutiert wird allerdings das genaue Vorgehen gegen die hervorgerufenen Beschwerden. Was unter anderem daran liegt, dass es keine oder nur schwer durchführbare Tests für dieses Krankheitsbild gibt. Daher sind für die Diagnose eine gute Arzt-Patienten-Beziehung und ein fachlich fundiertes Ernährungssymptom-Tagebuch eine wichtige Voraussetzung.
Bei begründeten Verdachtsmomenten sollten sich dann ein begleiteter Auslassversuch sowie ein Belastungsversuch unter medizinischer Kontrolle anschließen. Kommt es auf diese Weise zur Diagnose Weizensensitivität oder Glutensensitivität, wird laut den deutschen Behandlungsrichtlinien eine gezielte Eliminationsdiät als Behandlung empfohlen, bei der Weizen respektive Gluten konsequent gemieden werden muss.
Die Ernährung von Patienten mit Reizdarmsyndrom und anamnestischen Hinweisen auf eine Nahrungsmittelunverträglichkeit muss jedoch nicht wie bei einer Zöliakie komplett (= 100 %) glutenfrei sein. Schon eine glutenreduzierte Diät ist hier wirksam. Und obendrein auch einfacher umsetzbar. Umso wichtiger ist es daher, im Vorfeld eine Zöliakie absolut auszuschließen, um niemanden zu gefährden.
Prof. Dr. med. Stephan C. Bischoff ist Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Gastroenterologie, Allergologie und Ernährungsmedizin. Seit 2004 leitet er das Fachgebiet „Ernährungsmedizin, Prävention und Genderforschung“ an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Zudem ist er Herausgeber der Fachzeitschrift „Aktuelle Ernährungsmedizin“.
Etwa acht Prozent der Bevölkerung glauben, glutenhaltiges Getreide nicht zu vertragen. Allein in Deutschland sind es folglich mehr als sechs Millionen Menschen, die versuchen, sich glutenfrei zu ernähren. Da jedoch für die wenigsten eine glutenfreie Ernährung komplett ohne Brot, Nudeln und anderen Getreideprodukten vorstellbar ist, hat sich inzwischen ein riesiger Markt an glutenfreien Ersatzprodukten entwickelt. Das wiederum erweckt bei vielen Menschen, die gar keine Beschwerden haben, den Eindruck, es sei für alle gesünder, sich glutenfrei zu ernähren. Doch stimmt das? Und wie werden Lebensmittel überhaupt glutenfrei gemacht?
Um eine Antwort darauf geben zu können, muss man zunächst wissen, was Gluten, auch Klebereiweiß genannt, genau ist. Nämlich ein Proteinkomplex, der den größten Eiweißanteil im Mehl ausmacht und aus zwei verschiedenen Proteinarten besteht. Die erste Komponente sind monomere Gliadine, die die von der Hefe beim Gärprozess abgegebenen Gasbläschen in einer Art Matrix auffangen und so dafür sorgen, das die Brote bei der Herstellung ihr Volumen vergrößern und locker werden. Die zweite Komponente sind polymere Glutenine. Sie beeinflussen die Stärke und Elastizität des Teigs.
Die typische Konsistenz von Brot-, Back- und anderen Teigwaren, die von den Verbrauchern sehr geschätzt wird, fehlt den glutenfreien Produkten. Die Lebensmittelindustrie versucht deshalb, das Defizit mit Zutaten wie Zucker, Glucose-Fructose-Sirup, oft minderwertigen Fetten, Ei- und Milchpulver sowie Aromen, Emulgatoren und anderen Zusatzstoffen zu kompensieren. Was dazu führt, dass glutenfreie Produkte häufig kalorienreicher sind. Zum Teil wurde in glutenfreien Produkten auch eine erhöhte Schadstoffbelastung festgestellt im Vergleich zu glutenhaltigen Varianten. Insbesondere in Reismehl, neben Mais- und Sojamehl ein häufiger Mehlersatz, wurden Schadstoffe wie Arsen und Quecksilber nachgewiesen. (Vollkorn)Getreideprodukte komplett zu meiden führt nicht zuletzt dazu, dass die Ballaststoffzufuhr, die bei den meisten Menschen ohnehin eher gering ist, noch weiter erniedrigt wird. Was die Entwicklung von Krankheiten wie Diabetes oder Dickdarmkrebs begünstigt. Eine glutenfreie Ernährung ist deshalb nicht für alle Menschen empfehlenswert. Auch die Deutsche Zöliakiegesellschaft stellt fest: „Für gesunde Menschen, bei denen keine medizinische Notwendigkeit besteht, bringt eine glutenfreie Ernährung keine Vorteile.“
Außer Frage steht dagegen, dass Menschen mit nachgewiesener Zöliakie oder Weizenallergie gluten- bzw. weizenhaltige Nahrungsmittel meiden müssen. Diese Patienten können daher gelegentlich auf hochwertige glutenfreie Produkte zurückgreifen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob eine glutenfreie Ernährung auch bei einer Weizensensitivität notwendig ist. Diese neue Krankheitsform wird definiert als objektivierte Unverträglichkeit auf Weizen bzw. auf bestimmte Weizeninhaltsstoffe (nicht notwendigerweise Gluten!), nachdem Zöliakie und Weizenallergie ausgeschlossen worden sind. Neuere Zahlen deuten darauf hin, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung davon betroffen ist. Danach würde eine Weizensensitivität genauso häufig bestehen wie Zöliakie oder Weizenallergie. Vorausgesetzt, es werden nur die gezählt, bei denen die Weizensensitivität mit Hilfe eines verblindeten Provokationstests bestätigt werden konnte. Betroffene müssen sich nach neueren Erkenntnissen jedoch nicht so streng und auch nicht dauerhaft glutenfrei ernähren wie Menschen mit Zöliakie oder mit einer Weizenallergie.
Rechnet man alle zusammen, die sich aufgrund fundierter medizinischer Diagnosen glutenfrei bzw. -reduziert ernähren müssen, sind das schätzungsweise drei Prozent der Bevölkerung. Somit könnten fünf Prozent der vermeintlich Betroffenen auf eine solche Diät verzichten.