Ob allein eine ausgewogene Ernährung ausreicht, um unseren Körper mit allen wichtigen Nährsto en zu versorgen, oder ob wir mit Pillen, Pulvern und Dragees etwaige Mängel ausgleichen müssen, ist heftig umstritten. Wir haben zwei Experten befragt
Dr. Georg Abel ist Ernährungswissenschaftler. Er war Professor an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement, Saarbrücken, und ist heute als Dozent freiberuflich und an der Deutschen Klinik für Prävention in Bad Münder tätig. Seine fachlichen Schwerpunkte liegen im Bereich Sport und Ernährung. Dabei verbindet er neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit alltagstauglichen, individuell zugeschnittenen Empfehlungen.
Obwohl Nahrungsergänzungsmittel (NEM) häufig in der Kritik stehen und ihr Einsatz auch durchaus fragwürdig erscheinen kann, werden sie von vielen Menschen genutzt. Der Umsatz an Nahrungsergänzungsmitteln aus Apotheken ist in den letzten fünf Jahren in Deutschland um ca. sechs Prozent gestiegen und wies 2019 einen Wert von 2,2 Mrd. Euro auf. Im ersten Halbjahr 2020 und im Kontext der COVID-19-Krise stieg die Rate sogar auf acht Prozent. Rund 50 Prozent der Amerikaner und etwa 28 Prozent der Deutschen verzehren regelmäßig Nahrungsergänzungsmittel. Sie sind allerdings keinesfalls ein Ersatz für eine ausgewogene Ernährung.
Ziel ist es vielmehr, einer Nährstoffunterversorgung entgegenzuwirken oder Nährstoffdefizite auszugleichen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein. Genetische Faktoren (z.B. Resorptions-, Transport-, Enzymdefekte) und herausfordernde Lebensphasen (Kinder- und Jugendzeit, Schwangerschaft, Stillzeit, Alter) spielen ebenso eine Rolle wie besondere Ernährungsweisen (etwa vegan oder vegetarisch), eine einseitige Ernährung (mit z. B. geringer Zufuhr an Obst, Gemüse und Fisch) sowie Diäten und Fastenkuren, die eine Fehl- oder Mangelernährung zur Folge haben. Auch der übermäßige Genuss von Nikotin, Alkohol und Koffein sowie eine hohe körperliche Aktivität, beruflicher und emotionaler Stress oder auch Krankheiten (z. B. Resorptionsstörungen, Operationen oder Erkrankungen des Verdauungstraktes) können Nährstoffmängel verursachen. So ist es etwa für Schwangere essenziell, Folsäure zu supplementieren, um Neuralrohrdefekte des Fötus zu vermeiden. Das Risiko für ein vermindertes Geburtsgewicht und Fehlbildungen kann durch die Gabe eines Multivitaminpräparats mit Folsäure und Eisen verringert werden. Auch die empfohlene Zufuhrmenge an Jod und Vitamin D kann in unseren Breitengraden nur unzureichend über die Ernährung gedeckt werden. Insbesondere Senioren können aufgrund einer verringerten Hautsynthese von einer Vitamin-D- Gabe proftieren und ihr Osteoporose-Risiko vermindern
Bei veganer Ernärrungsweise ist es unerlässlich, Vitamin B12 zu supplementieren. Weitere kritische Nährstoffe sind hier die Omega-3-Fettsäuren, Zink, Calcium und auch Eisen. Auch Sportler können durch Nahrungsergänzungsmittel wie z. B. Protein- und Kohlenhydratpräparate ihre Leistungsfähigkeit im Wettkampf und ihre Regeneration fördern. Durch Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren lässt sich außerdem entzündlichen Prozessen nach intensiven sportlichen Belastungen sowie bei Arthrose und Rheuma entgegenwirken. Zudem beeinflussen Lebensmitteleigenschaften wie etwa Nährstoffdichte und -qualität, Erntezeitpunkt sowie Lagerung und Transport die Verfügbarkeit von Nährstoffen. So hat Spinat nach drei Tagen 70 Prozent des Folats verloren. Die Bestrahlung von Lebensmitteln mit dem Ziel einer längeren Haltbarkeit mindert den Gehalt an den Vitaminen A, B1, E und C. Und die Phytinsäure in Hülsenfrüchten und Getreide bildet Komplexe mit Calcium, Magnesium Eisen und Zink und vermindert dadurch deren Verfügbarkeit. Die Ernährungserhebungen „NVSII“ und „NHANES“ zeigen, dass der Großteil der deutschen wie auch der amerikanischen Gesellschaft nicht die täglich empfohlenen Zufuhrmengen an Obst und Gemüse erreichen. Zu den kritischen Nährstoffen zählen laut dieser beiden Ernährungserhebungen Vitamin A, Vitamin C, Zink und Selen, Folsäure, Vitamin D, Vitamin E, Calcium, Magnesium, Kalium, Eisen sowie Ballaststoffe.
Die Tendenz zur Außer-Haus- und „To- go“-Verpflegung ist eine Herausforderung, die eine adäquate Nährstoffzufuhr erschwert. Häufig mangelt es heute auch am Bewusstsein für eine vollwertige Mahlzeit. Dennoch können Nahrungsergänzungsmittel nicht grundsätzlich für jeden empfohlen werden, schon gar nicht bei bedarfsgerechter Ernährung. Unter professioneller Betreuung und Abklärung durch Ärzte und Ernährungsberater kann eine Zufuhr essentieller Nährstoffe insbesondere bei Risikogruppen aber eher ein Nutzen als ein Risiko sein.
Angela Clausen ist Ernährungswissenschaftlerin und leitet den Arbeitsbereich „Lebensmittel im Gesundheitsmarkt“ der Verbraucherzentrale NRW. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Nahrungsergänzungsmittel, Health Claims sowie das Portal „klartext-nahrungsergaenzung.de“. Sie ist außerdem Mitglied der bundesweiten Netzwerkgruppe „Lebensmittelqualität und Sicherheit“ sowie der AG „Lebensmittel im Gesundheitsmarkt“ der Verbraucherzentralen.
Vitamine gelten bis heute in großen Teilen der Bevölkerung als universelle, vor allem aber natürliche Heilmittel. Das zeigte sich ganz explizit gleich zu Beginn der Verbreitung des Corona-Virus, als plötzlich an allen Ecken und Enden Nahrungsergänzungsmittel angeboten wurden, die vor dem neuen Virus schützen sollten. In vielen Fällen gingen die Werbeaussagen weit über das hinaus, was zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nachgewiesen war (nämlich gar nichts), in anderen Fällen wurde kräftig über das Ziel hinausgeschossen. Aus der erlaubten gesundheitsbezogenen Aussage „Vitamin D trägt zu einer normalen Funktion des Immunsystems bei“ (sofern pro Tagesdosis mindestens 0,75 μg enthalten sind) wurde geschlussfolgert, dass viel auch viel hilft. Zum „Schutz vor Corona“ wurden 125 μg pro Tag und mehr empfohlen, unterstützt durch YouTube-Videos irgendwelcher Eminenzen.
Generell ist festzuhalten, dass wir durch die Vielfalt und Qualität unserer Lebensmittel durchaus in der Lage sind, uns sehr gut mit allen Nährstoffen zu versorgen. Immer wieder gehörte Argumente, dass unsere Böden arm an Nährstoffen wären, sind schon 2004 durch den Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) widerlegt worden. Demnach schwankte der Mineralstoffgehalt in pflanzlichen Lebensmitteln im Verlaufe der letzten 50 Jahre kaum. Besonders entlarvend wird es, wenn von einem Vitaminmangel der Äcker berichtet wird. Vitamine werden von Pflanzen produziert, aber nicht von diesen aus der Erde aufgenommen. Und wir sollten uns in erster Linie mit qualitativ guten Lebensmitteln ernähren. Denn die Vielfalt dessen, was in ausgereiftem Gemüse, Obst und Getreide an Substanzen enthalten ist, lässt sich mit Supplementen gar nicht abbilden. Selbst Extrakte oder Pulver aus einer Vielzahl von Gemüsen und Kräutern enthalten immer nur eine Auswahl dessen, was diese Pflanzen tatsächlich alles liefern könnten.
Aber natürlich ist der Einzelne damit auch in der Pflicht, bunt, vielfältig und ausgewogen zu essen. Selbst dann kann die ausreichende Versorgung ein Problem darstellen, z. B. wenn zu wenig gegessen wird, was bei Diäthaltenden, Hochbetagten, chronisch Kranken und Veganern vorkommen kann. Oder wenn mehr benötigt wird, wie das beispielsweise in Schwangerschaft und Stillzeit der Fall ist, aber auch bei Magen-Darm-Erkrankungen und dem regelmäßigen Gebrauch von Arzneimitteln. Klar, es kommt auch bei der gesunden Normalbevölkerung zu Defiziten (die noch lange keinen Mangel darstellen), wenn jemand einseitig isst oder Fertiggerichte und Fast Food bevorzugt. Nur, was soll alles supplementiert werden? Nur Vitamine? Was ist mit Ballaststoffen, sekundären Pflanzenstoffen, deren Bedarf man gar nicht kennt, den vielen Aromen, Duftstoffen, die hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Menschen noch gar nicht erforscht sind? Was ist mit Ultra-Spurenelementen, essenziell oder nicht? Vor allem Monoprodukte, die nur einen einzelnen Nährstoff oft hoch dosiert enthalten, können die feinen Regelkreisläufe im Stoffwechsel gehörig durcheinander bringen. Dass einzelne Mikronährstoffe vor den großen Volkskrankheiten nicht schützen, ja die Effekte sogar ins Gegenteil verkehrt werden können, haben schon vor 25 Jahren die CARET- und die ATBC-Studie gezeigt. Also lieber Multipräparate? Vom Gießkannenprinzip bin ich auch nicht begeistert, sehe das aber – sofern maximal nach Empfehlung der DGE dosiert wird – aus gesundheitlicher Sicht nicht ganz so kritisch. Nahrungsergänzungsmittel können nützlich sein, wenn sie zur richtigen Zeit vom richtigen Menschen mit dem richtigen Nährstoff in der richtigen Menge genommen werden. Sattmachen oder schmecken tun sie in der Regel nicht. Einen Bedarf an gemahlenen Haifischflossen, Lavendelextrakt oder gar CBD sehe ich nicht.
Last but not least: Erkrankungen vorzubeugen, zu lindern oder gar zu heilen, ist per (gesetzlicher) Definition nicht die Aufgabe von Nahrungsergänzungsmitteln. Das ist Aufgabe von Arzneimitteln – und diese werden hinsichtlich Zusammensetzung, Wirksamkeit und Sicherheit auch behördlich geprüft, Lebensmittel dagegen nicht.